Was bedeutet Zucker für Ihr Leben?

Vor vielen Jahren gab es ein Plakat an jeder Bushaltestelle:

Was bedeutet Zucker für Ihr Leben?“

Ich lächelte immer in mich hinein. Was für eine Frage! Dummerweise oder glücklicherweise fehlte mir immer die Zeit, darüber länger nachzudenken.

Seit diesem Frühjahr bin auch ich nun im Club der 50er – also 50 Jahre Diabetes. Ein würdiger Anlass, mich nun doch mal mit dem Thema zu befassen.

Die Ärzte in meiner Kindheit sagten immer zu meinen Eltern: „Die wird keine 30.“ Aber offenbar haben die rücksichtsvollen Erwachsenen gelogen. Ich sehe mit 53 eigentlich noch ganz prall aus.

Meine erste Erinnerung an den Diabetes ist ein Rosenmontagsumzug im Fernsehen, den ich ziemlich krank ansehen durfte, obwohl Fernsehen tagsüber für uns Kinder immer verboten war. Und dann musste ich sehr oft zu unserem alten Hausarzt Alfons, von dem ich nur noch weiß, dass er Augenbrauen wie Theo Waigel hatte und bis zum Schluss abgestritten hat, dass Kinder an Diabetes erkranken können.

Als ich dann erstaunlicherweise doch Diabetes hatte, kam ich sofort ins Kinderkrankenhaus nach Lüneburg. Und auch da war man der Meinung, Kinder haben so etwas nicht. Immerhin wurde mir Insulin gespritzt, allerdings war man sich uneins, was ich essen darf. Und so bekam ich nur Quark, Tomaten, Haferschleim und Wasser. Meine Mutter, die mich einmal wöchentlich besuchen durfte, gab mir heimlich Würstchen zu essen, da ich mittlerweile so abgemagert war, dass ich nicht mehr laufen konnte. Das ging fast ein Jahr so, bis eine Mitpatientin von einer nur 30 km entfernten Diabetes-Klinik in Bad Bevensen berichtete. (Dies ist zur heutigen Zeit, in der man Zugang zu allen möglichen und unmöglichen Informationen hat, nahezu undenkbar.)

In Bevensen (1973 ein Dorf und die Klinik noch ohne eigenes Bad im Zimmer) blieb ich 6 Wochen zum Aufpäppeln. Hätte man damals in der Klinik geahnt, welche Frau mal dabei herauskommt, wäre ich wohl weniger aufgepäppelt worden.

Danach fuhr ich mehrere Jahre lang in den Osterferien und den Herbstferien zur Einstellung. Meine Großmütter begleiteten mich abwechselnd. Mit 14 fuhr ich dann erstmalig alleine in die Sommerferien. Da war Party mit Gleichgesinnten angesagt, immer kurz vorm Rausfliegen.

Ich lernte Süßigkeiten zu essen, was von den Ärzten ja konsequent nach dem Motto „Was nicht sein darf, gibt es nicht“ totgeschwiegen wurde. Ich lernte, dass Dosenbier nur im äußersten Notfall etwas mit Genuss zu tun hat. Ich lernte zu rauchen.
Ich lernte das ein oder andere von und über Jungs …

Mit 17 wurde der Spaß durch die Einführung des HbA1c-Wertes etwas getrübt. Wir waren alle zweistellig und manche mit einer Zwei an erster Stelle. Wenn mir heute besorgte Eltern berichten, ihr jugendliches Kind hat einen HbA1c von 8, muss ich mich zusammenreißen, um nicht zu gratulieren.

Der ganze Spaß war aber nur eine Sache, die andere waren die gesundheitlichen Probleme. Mit dem verspäteten Eintritt in die Pubertät hörte ich auf zu wachsen – wie Oskarchen aus der Blechtrommel. Erst das Rinderinsulin und dann das Schweineinsulin machten eine gute Einstellung für mich unmöglich. Wenn ich als Jugendliche von der Schule kam, hatte ich immer einen BZ von 300-500 mg/dl. Und damit habe ich dann auch noch täglich Sport gemacht. Mir ging es sehr schlecht und ich scheiterte schließlich auf dem Weg zum Abitur. Nun ja, meine eklatante Schwäche in Mathe und Physik waren auch ein Grund.

Und mit allem war ich in jungen Jahren alleine. Es gab in meiner Nähe keine weiteren Typ-I Diabetiker. Zudem war meine Mutter niemals in der Lage, mit meinem Diabetes klar zu kommen. Sie hat es 84 Jahre lang geschafft, alles Unangenehme zu ignorieren. Und wenn das nicht mehr ging, wurde gejammert. Ich habe mich mit fünf Jahren selber gespritzt . Und zwar noch mit einer Glaskolbenspritze, die ausgekocht wurde. Waren die dicken Nadeln verbogen, hat mein Vater sie mit einer Zange wieder gerade gemacht. Ich hüte den Metallzylinder heute noch wie einen Schatz – wie der Gollum den Ring. Und jetzt muss die Pennadel nach jedem Gebrauch entsorgt werden! Mit sechs Jahren habe ich selber auf meine BE usw. geachtet. Ich war bestimmt nie super konsequent, aber die Diskussionen mit meiner Mutter, die immer meinte, ein Eis oder ein Stück Kuchen schaden doch nicht, waren an der Tagesordnung. Ich habe mittlerweile meinen Frieden mit ihr gemacht.

In der Grundschule wurde ich einmal zum Kindergeburtstag eingeladen. Die Mutter des Freundes meinte es gut und backte Kuchen mit Sionon. Nach zwei Stunden war der Spaß vorbei und alle Kinder mussten aufgrund von Durchfall von den Eltern abgeholt werden. Ich habe übrigens noch mein erstes Koch- und Backbuch für Diabetiker. Alle abgebildeten Menschen sind vermutlich tot!

Erst während meiner schulischen Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin (PTA) traf ich eine weitere Diabetikerin in meiner Nähe. Sie berichtete mir von einer Diabetesklinik in Mölln. Dort wurde ich nach 20 Jahren mit unglaublichen Blutzuckerwerten intensiviert eingestellt und zum ersten Mal in meine Therapie mit einbezogen. Heute unvorstellbar! Das erste Altinsulin bekam ich von einem Notarzt anlässlich einer schweren Infektion und einer damit verbundenen Blutzuckerentgleisung mit 19 Jahren verordnet. Ungefähr zur gleichen Zeit bekam ich mein erstes Blutzuckermessgerät.

Aber es ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Hätte man bis zur intensivierten Einstellung mit Humaninsulin mein Foto für jeden Spendenaufruf in einer Samstagsabendshow verwenden können, ging es danach mit meinem Gewicht steil bergauf. In einem Jahr nahm ich 25 Kilo zu. Das ein oder andere Kilo kam dann in den nächsten Jahren noch hinzu. Den Preis muss ich zahlen.

Mit Mitte 20 bekam ich den Diabetes besser in den Griff. Ich reiste viel in der Welt herum und kam immer gut mit Zeitumstellungen, Klima und anderem Essen klar. Ein besonderer Nervenkitzel war das Mitführen von Spritzen in Indonesien .

Mit Ende 20 bekam ich Probleme mit den Augen und musste gelasert werden. Es folgte eine schwierige Zeit. Auf einmal waren sie da, die Spätschäden. Zeit zum Nachdenken!

Ich traf zwei wichtige Entscheidungen. Die Insulinpumpe musste her, um aus den Blutzuckerschwankungen heraus zu kommen. Und nach 14 Jahren habe ich mich von meinem Partner getrennt. Er kam als Mensch nicht mit meinen wachsenden Problemen klar. Ich musste Ballast abwerfen und mich um mich selber kümmern.

Ich bekam im Bethanien-Krankenhaus in Hamburg die Insulinpumpe, wurde bis zum „Gehtnichtmehr“ gelasert und hatte schließlich eine Glaskörperentfernung. Mit der Insulinpumpe wurde alles besser, wenn doch nur das Leben mal Ruhe gegeben hätte, denn es folgte eine 10jährige Ehe mit einem Mann, der an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung litt.

Fallen – Aufstehen – Krönchen richten und weitermachen!

In den letzten Jahren hatte ich dann mit Männern so viel Glück wie mit Krankheiten. Es gab immer wieder kuriose Begegnungen. Stoff für mehrere Bücher …! Mittlerweile haben viele Männer auch Diabetes-Typ 2, wir werden älter! Mein letzter Lebensgefährte starb plötzlich vor 2 Jahren.

Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch bekam man Informationen über die typischen Spätschäden, später Folgeerkrankungen genannt. Was aber keinen Unterschied macht.

Die Klassiker Nephropathie und Polyneuropathie haben mich verschont, die Augen sind stabil. Aber auf das komplexe Andere wurde man nicht vorbereitet. Es kamen und kommen andere Krankheiten dazu und man braucht immer mehr Zeit, alles miteinander zu vereinbaren. Ich hatte alleine mehrere Male einen Krebsverdacht. Wenn keiner weiter weiß, muss es doch Krebs sein! Und das normale Leben hört ja auch nicht einfach auf. Alles hat einen Einfluss.

Aber die Kraft, nach jedem neuen Schlag wieder aufzustehen und das Krönchen zu richten, wird weniger. Ich habe trotz der gesundheitlichen Probleme immer viel und engagiert gearbeitet, aber im Oktober 2020 habe ich Teilerwerbsminderungsrente beantragt. Es war das erste Mal, dass ich um Hilfe bitten musste. Sie wird mir verwehrt. Ablehnung! Widerspruch! Dann die Aufforderung, den Widerspruch zurückzunehmen und erneut einzureichen, wenn es mir schlechter geht. Es ist ein langer Kampf, in dem ich beweisen muss, dass die Kräfte nachlassen und es logistisch unmöglich ist, regelmäßig 13 Fachärzte neben der vollen Berufstätigkeit zu besuchen.

Ich habe aufgrund meines Diabetes auf Kinder verzichtet, doch nun trifft mich auch durch die Pandemie manchmal die Einsamkeit. Umso wichtiger ist es, mit langjährigen diabetischen Wegbegleitern im Austausch zu bleiben. Im Gegensatz zu meinen Anfangsjahren habe ich jetzt viele, für mich immer wichtiger werdende Kontakte. Und ich habe in meinen beiden Selbsthilfegruppen Lüneburg und Schwarzenbek gute Freunde gefunden. Als Tanja mich vor einigen Jahren das erste Mal zum Insulinertreffen mitnahm, dachte ich am ersten Abend in Nordwalde, dass alle Anwesenden irgendwie einen Knall haben „Wippen im Wald“ als Workshop anzubieten …

Spätestens nach dem „Wippen im Wald“ wusste ich, dass meine Vermutung richtig war und ich perfekt dazu passte. Ich habe großartige Menschen kennengelernt. Alle sind einzigartig und haben ihren Weg mit dem Typ1-Diabetes auf ihre ganz eigene Art gemeistert. Es gab und gibt weiterhin viele tolle Gespräche und Diskussionen. Und was mindestens genauso wichtig ist: Ich habe mit euch gelacht, getanzt, getrunken und sogar gesungen.

Mit großer Begeisterung las ich die Bücher von Grit Ott und das Buch von Doris Janssen. So viel Mut und Energie wie Grit auf ihren Pilgerwegen werde ich leider nie aufbringen. Ich werde vermutlich auch nicht mehr segeln wie Doris, aber bei „Der alte Mann und das Meer“ geht es ja auch nicht ums Angeln.

Die leider verstorbene Cornelia, damals 82 und seit 80 Jahren Diabetes gab mir praktische Tipps, mit Diabetes alt zu werden:

1. nie zu heiraten und die Socken eines anderen zu waschen

2. nie ohne Geliebten zu sein

3. nicht vorher zu sterben

Sie sagte nichts vom Diabetes!

Diese tollen Erfahrungen lassen mich weiter hoffen, noch so viel Zeit wie möglich mit euch verbringen zu können.

Petra

Petra.ich.meyn@gmx.de